Das Geheimnis der Liebe
Die Liebe ist eine natürliche Schwäche,
die uns vom ersten Menschen vererbt worden ist.
Die Liebe verbindet unsere Gegenwart
mit den Wurzeln unserer Vergangenheit
und mit dem Dorn unserer Zukunft.
Die Liebe ist ein tödliches Gift,
das durch schwarze Vipern,
die aus Höllengrotten hervorgekrochen sind,
eingeflößt wird.
Dieses Gift scheint frisch wie der Tau zu sein,
und die durstige Seele trinkt es in großen Schlucken.
Aber wenn er erst berauscht ist,
wird der Trinker von Sehnsucht erfaßt
und wird einem schmerzhaften Tod erliegen.
Die Liebe ist ein Wein,
der von den Verlobten des Morgengrauens kredenzt wird.
Sie festigt die starken Seelen und erlaubt ihnen,
sich bis zu den Sternen zu erheben.
Die Liebe ist blinde Unwissenheit,
in der die Jugend beginnt und aufhört.
Die Liebe ist eine göttliche Erkenntnis,
die es dem Menschen erlaubt zu sehen,
was Götter sehen.
Die Liebe ist ein Nebel,
der blendet und die Seele daran hindert,
das Geheimnis der Existenz zu durchschauen,
so dass das Herz zwischen den Hügeln
nur noch die zitternden Phantome der Begierde sieht
und nur noch die Echos des Weinens der stummen Täler hört.
Die Liebe ist das Ausruhen des Körpers
in der Stille des Grabes,
die Gelassenheit der Seele
und die Tiefen der Ewigkeit.
Die Liebe,
das sind mein Vater und meine Mutter,
und niemand außer ihnen kennt sie.
So evoziert die Liebe im Vorbeigehen
gleichsam den Widerschein ihrer Hoffnungen
und ihrer Enttäuschungen;
und das Geheimnis blieb immer gleichermaßen
undurchschaubar.
Die Liebe ist die einzige Blume,
die wächst und die unabhängig von den Jahreszeiten blüht.
Die Liebe ist die einzige Freiheit,
die es auf der Welt gibt,
denn sie erhebt den geist zu solchen Höhen,
dass die Menschen und die Phänomene der Natur
ihren Lauf nicht ändern können.
Eine beschränkte Liebe verlangt,
das geliebte Wesen zu besitzen,
aber der,
dessen Ich ein unendliches Meer ist,
sucht nur seine eigenen Ufer.
Die, die von der Liebe nicht zu Schülern
erwählt worden sind,
können ihre Rufe nicht hören.
Die Hölle liegt nicht in der Qual.
Die Hölle liegt im leeren Herzen.
(Khalil Gibran)